
In einer Zeit, in der Nahrungsergänzungsmittel als Lösung für nahezu jedes Gesundheitsproblem angepriesen werden, ist es schwer geworden, zwischen echtem Bedarf und Marketingversprechen zu unterscheiden. Die Regale in Drogerien, Apotheken und Supermärkten biegen sich unter der Last bunter Packungen mit Vitamin-Präparaten, Mineralstoff-Komplexen und exotischen Superfood-Extrakten.
„Die Nahrungsergänzungsmittel-Industrie hat in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt – doch nicht immer zum Vorteil der Verbraucher“, erklärt Prof. Dr. Helmut Heseker, Ernährungswissenschaftler an der Universität Paderborn. „Viele Menschen nehmen Präparate ein, die sie nicht benötigen, während tatsächlich wichtige Nährstoffe übersehen werden.“
In diesem Artikel erfährst du, welche Vitamine und Nährstoffe für deinen Körper wirklich essentiell sind, wann Nahrungsergänzung sinnvoll sein kann und wie du deinen persönlichen Nährstoffbedarf optimal deckst.
1. Die Grundlagen: Makro- und Mikronährstoffe
Was der Körper wirklich braucht
Unser Körper benötigt täglich Dutzende verschiedener Nährstoffe, die in zwei Hauptkategorien fallen:
Makronährstoffe (benötigt in größeren Mengen):
- Proteine (Eiweiße)
- Kohlenhydrate
- Fette
- Wasser
Mikronährstoffe (benötigt in kleineren Mengen):
- Vitamine (13 essentielle)
- Mineralstoffe (15+ essentielle)
- Spurenelemente
„Die meisten dieser Nährstoffe kann der Körper nicht selbst herstellen – sie müssen über die Nahrung aufgenommen werden“, erklärt Ernährungsmedizinerin Dr. Anne Fleck. „Ein Mangel kann zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen, während eine Überversorgung mit bestimmten Nährstoffen ebenfalls schädlich sein kann.“
Der individuelle Bedarf
Der Nährstoffbedarf variiert stark je nach:
- Alter und Geschlecht
- Körperliche Aktivität
- Gesundheitszustand
- Genetische Faktoren
- Lebensstil (z.B. Rauchen, Alkoholkonsum)
- Besondere Lebensphasen (Schwangerschaft, Stillzeit)
- Ernährungsweise (vegan, vegetarisch etc.)
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) veröffentlicht regelmäßig aktualisierte Referenzwerte, die als Orientierung dienen können. Diese Werte sind jedoch Durchschnittswerte – der individuelle Bedarf kann abweichen.
2. Die wichtigsten Vitamine und Nährstoffe im Check
Vitamin D: Der Sonnenvitamin-Star
Funktion: Knochengesundheit, Immunfunktion, Muskelkraft, möglicherweise Schutz vor chronischen Erkrankungen
Risiko für Mangel: Sehr hoch in nördlichen Breitengraden (wie Deutschland), besonders in den Wintermonaten
Forschungsstand: Zahlreiche Studien belegen die Bedeutung von Vitamin D*. Eine Metaanalyse in The BMJ zeigte, dass eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung das Risiko für Atemwegsinfekte um bis zu 70% reduzieren kann (bei Menschen mit schwerem Mangel).
Wer sollte supplementieren?:
- Menschen mit wenig Sonnenexposition
- Ältere Menschen (verringerte Synthesefähigkeit der Haut)
- Menschen mit dunkler Hautfarbe in nördlichen Breitengraden
- Übergewichtige Personen (Vitamin D* ist fettlöslich und wird im Fettgewebe „gefangen“)
Optimale Zufuhr: 800-2000 IE täglich während der Wintermonate; idealerweise nach Bluttest und ärztlicher Beratung
Vitamin B12: Kritisch für Veganer und Ältere
Funktion: Blutbildung, Nervenfunktion, DNA-Synthese, Energiestoffwechsel
Risiko für Mangel: Hoch bei veganer Ernährung, erhöht bei älteren Menschen und bei Einnahme bestimmter Medikamente (z.B. Metformin, Protonenpumpenhemmer)
Forschungsstand: Ein B12-Mangel entwickelt sich oft schleichend über Jahre, kann aber zu irreversiblen neurologischen Schäden führen. Studien zeigen, dass bis zu 20% der über 60-Jährigen einen B12-Mangel aufweisen.
Wer sollte supplementieren?:
- Veganer (obligatorisch!)
- Viele Vegetarier
- Menschen über 60 Jahre
- Personen mit Magen-Darm-Erkrankungen
- Patienten mit bestimmten Dauermedikationen
Optimale Zufuhr: 250-1000 µg täglich (oral) oder nach ärztlicher Anweisung
Omega-3-Fettsäuren: Die Entzündungshemmer
Funktion: Entzündungsregulation, Gehirnfunktion, Herzgesundheit, Zellmembranstruktur
Risiko für Mangel: Moderat bis hoch, besonders bei geringem Fischkonsum
Forschungsstand: Zahlreiche Studien belegen die positiven Effekte von Omega-3-Fettsäuren, besonders EPA und DHA, auf kardiovaskuläre Gesundheit und Entzündungsprozesse. Eine Harvard-Studie zeigte, dass regelmäßiger Fischkonsum das Risiko für tödliche Herzrhythmusstörungen um etwa 50% senken kann.
Wer sollte supplementieren?:
- Menschen, die selten Fisch essen (weniger als 2x wöchentlich)
- Personen mit erhöhten Triglyceridwerten
- Menschen mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen
- Schwangere (für die Gehirnentwicklung des Kindes)
Optimale Zufuhr: 500-1000 mg EPA+DHA täglich
Magnesium: Der unterschätzte Mineralstoff
Funktion: Über 300 enzymatische Reaktionen, Muskel- und Nervenfunktion, Energieproduktion, Knochengesundheit
Risiko für Mangel: Moderat bis hoch, besonders bei Sportlern, Schwangeren und bei Konsum verarbeiteter Nahrung
Forschungsstand: Neuere Studien zeigen, dass bis zu 50% der Bevölkerung unzureichend mit Magnesium versorgt sind. Eine Metaanalyse im American Journal of Clinical Nutrition ergab, dass eine höhere Magnesiumzufuhr das Risiko für Typ-2-Diabetes, Schlaganfall und Herzinsuffizienz signifikant senken kann.
Wer sollte supplementieren?:
- Sportler (erhöhter Verlust durch Schwitzen)
- Menschen mit Verdauungsproblemen
- Personen mit häufigen Muskelkrämpfen
- Menschen unter chronischem Stress
- Schwangere
Optimale Zufuhr: 300-400 mg täglich, idealerweise als Magnesiumcitrat, -glycinat oder -malat
Eisen: Besonders wichtig für Frauen
Funktion: Sauerstofftransport, Energieproduktion, Immunfunktion, kognitive Leistung
Risiko für Mangel: Hoch bei Frauen im gebärfähigen Alter, Schwangeren und Sportlerinnen
Forschungsstand: Die WHO schätzt, dass weltweit etwa 30% der Frauen im gebärfähigen Alter unter Eisenmangel leiden. Studien zeigen, dass selbst ein milder Eisenmangel ohne Anämie zu Erschöpfung, verminderter Leistungsfähigkeit und eingeschränkter Immunfunktion führen kann.
Wer sollte supplementieren?:
- Frauen mit starker Menstruation
- Schwangere und Stillende
- Veganer und Vegetarier (pflanzliches Eisen wird schlechter aufgenommen)
- Ausdauersportler (besonders Frauen)
- Blutspender
Wichtig: Eine Eisensupplementierung sollte immer nach Bluttest und ärztlicher Beratung erfolgen, da eine Überversorgung gesundheitsschädlich sein kann.
Vitamin K2: Der verkannte Knochenschützer
Funktion: Knochengesundheit, Kalziumregulation, Herzgesundheit, Blutgerinnung
Risiko für Mangel: Moderat, besonders in westlichen Ernährungsweisen
Forschungsstand: Neuere Forschung zeigt, dass Vitamin K2 eine entscheidende Rolle bei der Steuerung des Kalziumstoffwechsels spielt. Eine Studie im Journal of Nutrition fand, dass eine höhere K2-Zufuhr mit einem um 52% reduzierten Risiko für Arterienverkalkung und einem um 57% geringeren Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen assoziiert war.
Wer sollte supplementieren?:
- Menschen, die Vitamin D* supplementieren (synergistische Wirkung)
- Personen mit erhöhtem Osteoporose-Risiko
- Menschen mit Herz-Kreislauf-Risikofaktoren
Optimale Zufuhr: 100-200 µg täglich (als MK-7)
3. Nahrungsergänzung: Wann sinnvoll, wann überflüssig?
Situationen, in denen Nahrungsergänzung sinnvoll sein kann
- Nachgewiesener Mangel: Durch Bluttests bestätigte Nährstoffdefizite
- Erhöhter Bedarf: Schwangerschaft, Stillzeit, intensiver Sport
- Einschränkungen bei der Ernährung: Vegane/vegetarische Ernährung, Allergien, Unverträglichkeiten
- Bestimmte Erkrankungen: Malabsorptionsstörungen, chronische Darmerkrankungen
- Medikamenteneinnahme: Viele Medikamente beeinträchtigen die Nährstoffaufnahme oder erhöhen den Bedarf
- Ältere Menschen: Verminderte Absorptionsfähigkeit, veränderte Ernährungsgewohnheiten
Häufig überflüssige Nahrungsergänzungsmittel
- Multivitaminpräparate: In der Regel zu niedrig dosiert für bestehende Mängel, überflüssig bei ausgewogener Ernährung
- Vitamin C in hohen Dosen: Bei normaler Ernährung selten ein Mangel, Überschuss wird ausgeschieden
- Kalzium als Einzelsupplement: Ohne Vitamin D, K2 und Magnesium potenziell problematisch für Herzgesundheit
- Antioxidantien-Komplexe: Können natürliche Abwehrprozesse stören und in einigen Fällen sogar krebsfördernd wirken
- Exotische Superfoods als Extrakte: Oft überteuert und wissenschaftlich unzureichend untersucht
Dr. Matthias Riedl, Ernährungsmediziner, fasst zusammen: „Die beste Nahrungsergänzung ist eine, die individuell auf Basis von Blutwerten, persönlicher Gesundheitssituation und Ernährungsverhalten empfohlen wird. Pauschalempfehlungen sind selten zielführend.“
4. Der optimale Nährstoff-Check: So gehst du vor
Schritt 1: Analyse deiner Ernährung
Führe für 7-14 Tage ein detailliertes Ernährungstagebuch. Nutze Apps wie FDDB, Yazio oder Cronometer, die auch Nährstoffwerte analysieren können. Achte besonders auf:
- Proteinquellen
- Obst- und Gemüsekonsum
- Vollkornprodukte
- Gesunde Fette
- Flüssigkeitszufuhr
Schritt 2: Beachte Risikofaktoren für Nährstoffmängel
Prüfe, ob folgende Faktoren auf dich zutreffen:
- Strenge Diäten oder Ernährungsformen
- Chronische Erkrankungen
- Regelmäßige Medikamenteneinnahme
- Intensive sportliche Aktivität
- Schwangerschaft oder Stillzeit
- Vegetarische oder vegane Ernährung
- Lebensphasen mit erhöhtem Bedarf (Wachstum, Alter)
Schritt 3: Gezielte Bluttests
Sprich mit deinem Arzt über sinnvolle Blutwerte. Diese können umfassen:
- Vitamin D-Status (25-OH-Vitamin D)
- Vitamin B12 (idealerweise Holotranscobalamin oder MMA)
- Ferritin (Eisenspeicher)
- Magnesium (idealerweise Vollblut-Magnesium)
- Zink
- Omega-3-Index (EPA/DHA-Status)
- Schilddrüsenwerte (bei Verdacht auf Jodmangel)
„Ein regelmäßiger Check der relevanten Blutwerte alle 1-2 Jahre ist eine sinnvolle Investition in die Gesundheit“, empfiehlt Dr. Sara Gottfried, Ärztin und Bestsellerautorin.
Schritt 4: Individuelle Supplementierungsstrategie
Basierend auf den Ergebnissen:
- Beginne mit den wichtigsten identifizierten Mängeln
- Wähle hochwertige, gut bioverfügbare Präparate
- Achte auf synergistische Nährstoffe (z.B. Vitamin D + K2 + Magnesium)
- Überprüfe den Erfolg nach 3-6 Monaten durch erneute Bluttests
- Passe die Dosierung entsprechend an
5. Nährstoffe aus natürlichen Quellen: Die besten Lebensmittel
Nahrungsergänzung sollte immer nur die zweite Wahl nach einer optimierten Ernährung sein. Diese Lebensmittel sind besonders nährstoffreich:
Vitamin D:
- Fetter Fisch (Lachs, Makrele, Hering)
- Eigelb
- Pilze (besonders wenn UV-belichtet)
- Angereicherte Lebensmittel
Vitamin B12:
- Fleisch, besonders Leber
- Fisch und Meeresfrüchte
- Eier
- Milchprodukte
- Angereicherte pflanzliche Produkte (für Veganer)
Omega-3-Fettsäuren:
- Fettreicher Kaltwasserfisch (Lachs, Hering, Makrele)
- Leinsamen und Leinöl
- Walnüsse
- Chiasamen
- Algenöl (vegane Alternative)
Magnesium:
- Nüsse und Samen
- Vollkornprodukte
- Hülsenfrüchte
- Blattgrünes Gemüse
- Bitterschokolade (>70% Kakao)
Eisen:
- Rotes Fleisch
- Hülsenfrüchte
- Kürbiskerne
- Dunkelgrünes Blattgemüse
- Getrocknete Aprikosen und Pflaumen
Vitamin K2:
- Fermentierte Lebensmittel (Natto, Sauerkraut)
- Hartkäse
- Eigelb von Weidehühnern
- Gänseleber
- Butter und Ghee von grasgefütterten Tieren
Fazit: Der ausgewogene Weg zu optimaler Nährstoffversorgung
Die Wissenschaft der Nährstoffversorgung ist komplex und individuell. Eine pauschale Empfehlung wie „Alle sollten Nahrungsergänzungsmittel nehmen“ ist ebenso falsch wie „Niemand braucht Nahrungsergänzungsmittel“. Die Wahrheit liegt in der personalisierten Betrachtung.
Dr. Michael Greger, Ernährungsexperte und Autor, bringt es auf den Punkt: „Eine optimale Ernährung sollte immer die Basis sein. Gezielte Nahrungsergänzung kann jedoch eine sinnvolle Strategie sein, um bestehende Lücken zu schließen oder in besonderen Lebensphasen zu unterstützen.“
Investiere in einen umfassenden Nährstoff-Check, optimiere deine Ernährung und ergänze gezielt, wo nötig. Dein Körper wird es dir mit mehr Energie, besserer Gesundheit und erhöhter Leistungsfähigkeit danken.
Wichtiger Hinweis: Dieser Artikel dient ausschließlich zu Informationszwecken und ersetzt nicht die professionelle medizinische Beratung. Bevor du mit einer Nahrungsergänzung beginnst, konsultiere bitte einen Arzt oder Ernährungsberater, besonders wenn du Medikamente einnimmst oder an Vorerkrankungen leidest.